Faschismus oder Nationalsozialismus? – eine Auseinandersetzung mit einer Selbstdarstellung der deutschen Faschisten

16. November 2021

Ein Beitrag von Charles Melis (Aktualisiert im Mai 2023)

Hinweis: Genderspezifische Benennungen sind nicht erfolgt und somit alle möglichen Formen eingeschlossen

Der Begriff »Faschismus« scheint aus dem deutschen Wortschatz getilgt. Man spricht nur noch vom »Nationalsozialismus«, verkürzt NS.[1]

Der Beitrag soll positionieren, ohne damit wie bei der Gendersprachdiskussion, Ausschlusskriterien zu formulieren. Wenn hier auch Definitionsversuche einfließen – so mit dem Hinweis, dass es sich um eine komplexe Materie handelt, die gerade unter Antifaschisten und vor allem im Bildungsbereich die Gesamtheit des deutschen Faschismus stärkere Beachtung finden sollte. Einige Literaturhinweise sind nicht die Widergabe der umfangreichen Diskussion, sondern sollen zur weiteren Beschäftigung anregen.

  1. Historischer Abriss
  2. Definition
  3. Warum wollen wir und/oder ich die Formulierung Deutscher Faschismus bzw. Faschismus allgemein in der Charakterisierung dieser gesellschaftlichen Erscheinung gebrauchen?

1. Historischer Abriss

Das demagogische Wort Nationalsozialismus kreierten die Nazis selbst. Als Deutsche Arbeiterpartei (DAP) im Januar 1919 gegründet, firmierte sie ab Februar 1920 als Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). Programm und Ideologie waren von Anfang an durch Ablehnung von Demokratie und Marxismus, radikalem Antisemitismus, Nationalismus  und Chauvinismus bestimmt.

Der sogenannte Hitlerputsch, der am 9. November 1923 in München mit einem gewissen Vergleich zu Mussolinis Marsch auf Rom (Oktober 1922) inszeniert wurde, scheiterte. Der Vorgang ist insofern von Interesse, als sowohl der folgende Prozess gegen Hitler wie auch seine spätere verkürzte Festungshaft von den deutschen Faschisten propagandistisch genutzt wurden.

In der Haft entstand auch der erste Band von „Mein Kampf“.  Das Buch hat insofern eine Bedeutung, als hier bereits alle wesentlichen Ziele Hitlers und seiner frühen Anhänger formuliert wurden   mit aller Demagogie, alle Stichworte erscheinen schon hier. – Im Marxismus sieht Hitler das Anti-Nationale, ja, das Anti-Menschliche schlechthin. Wer aber, fragt er sich, denkt sich so etwas wie den Marxismus aus? Hitler glaubt zur Ursache des Übels durchgestoßen zu sein, als er „entdeckt“, dass zahlreiche Führer der marxistischen Sozialdemokratie Juden sind. Hier fügt sich, stark verkürzt, jenes Bild des „jüdisch-bolschewistischen“ Untermenschen, als einer der Ausgangspunkte der faschistischen „Rassentheorie“ ein, und die nicht zuletzt daraus abgeleitete soziale Ansprache an das Nationale, verbunden mit der aggressiven These vom „Lebensraum im Osten“. (Und das Nationale wird ins Nationalistische, Chauvinistische gesteigert.) Dieses Elaborat von über 800 Seiten kann hier nur ansatzweise gestreift werden. Es lieferte aber und liefert noch heute beliebige Versatzstücke für jene ideologische Verblendung, die große Teile des deutschen Volkes letztlich zu willigen Vollstreckern der diktatorischen Ziele des Faschismus werden ließen. Auch wenn bei Hitler ausführlich behandelt, soll hier die damit verbundene und unerlässliche Terrorherrschaft ausgeklammert werden. Als Hinweis: Diese Terrorherrschaft konnte nur mit einem hinreichend großen Teil der Bevölkerung, wenn auch in der Überzahl passiv, realisiert werden.

„Der Begriff „Faschismus“ ist in den Jahrzehnten nach dem bewaffnet erzwungenen Ende des Regimes offenkundig aus Deutschland, genauer aus Deutschland-West, erfolgreich deportiert worden. Die Erscheinung heißt wieder so, wie ihre Akteure sie einst tauften: Nationalsozialismus.“[2]

2. Definition

Es gab und gibt eine große Zahl von Definitionen des Faschismus – das ist bei der Vielfältigkeit seiner Ausprägungen und dem inzwischen mehr als 100jährigen Wirken auch nicht verwunderlich. Hier sollen nur zwei wesentliche Versuche benannt werden, jene, die Dimitroff zugeschriebene und von ihm auf dem VII. Weltkongress der Komintern vorgetragene Formel: „Der Faschismus ist die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“; Diese Beschreibung wurde jedoch schon im Referat von Otto Kuusinen im Dezember 1933 auf einer Tagung des Exekutivkomitees der Komintern vorgetragen.[3] Es war eine kurze und für die Auseinandersetzung griffige Formulierung. Es soll hier nicht die Diskussion der Grenzen dieser Definition für eine Gesellschaftsform überhaupt vorgenommen werden. Dazu der Hinweis auf die entsprechenden Bemerkungen von Pätzold [4], der dann auch selbst auf der Basis unseres heutigen Wissens einen Versuch lieferte und vor allem zwei wesentliche Aspekte integriert: das Faktum der millionenfachen Unterstützung, begünstigt durch die soziale Komponente vor allem in Form der Beseitigung der Arbeitslosigkeit und der bewussten Aufnahme von umgewidmeten Inhalten aus dem Arbeitermilieu (Liedgut, Umwidmung von Feiertagen – hier der in der BRD immer noch übliche „Tag der (nationalen) Arbeit“ statt des von der Zweiten Internationale ausgerufenen „Kampftag der Arbeiterbewegung“ – etc., siehe dazu auch im Anhang).

Ein zweiter Aspekt, von Pätzold zu Recht als wesentlich bei den Einwendungen gegen die vorhandenen Faschismus-Definitionen benannt, ist der fehlende Bezug auf faschistischen Antisemitismus. Weiter verweist der Autor zu Recht darauf, dass es in der Definition von 1933 an keiner Stelle auf Antikommunismus oder andere politische oder religiöse Strömungen Bezug genommen wird.

Warum diese Hinweise? „Mit der Erfahrungsmasse des Jahres 1935 gehörten Antikommunismus, Antisemitismus, dazu Antidemokratismus und Antiliberalismus in eine Definition der faschistischen Ideologie… Mit dem Beginn des Massenmordens, das 1941 auf dem sowjetischen Territorium einsetzte, gehört der massenmörderische Antisemitismus auch in jede Faschismusdefinition, die ohne die Begriffe barbarisch und bestialisch – auch mit Blick auf das Sterben der Kriegsgefangenen und den Terror in den eroberten Gebieten – nicht geschrieben werden kann.

Doch geht es in der Diskussion über den Faschismus, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht in Permanenz geführt wird, aber immer wieder einmal entbrannt ist, schon nicht mehr darum. Der gemeinhin als Holocaust bezeichnete Massenmord an den europäischen Juden, der [5] bis zur Tötung des letzten Juden fortgeführt worden wäre … gilt inzwischen als das Hauptkennzeichen des deutschen Faschismus. Und da die anderen faschistischen Regimes dieses Programm nicht auch besaßen, oder aber wie der italienische und ungarische Faschismus weder programmatisch noch in der alles in den Schatten stellenden Rigorosität realisierten, wie sehr sie den deutschen Faschisten auch geholfen haben mochten, wird die geschichtlich beispiellose Untat im neudeutschen, Kenntnisse vortäuschenden Sprachgebrauch zum Alleinstellungsmerkmal aufgeblasen.

Daraus folgt dann die Unmöglichkeit, dieses deutsche Regime mit dem Begriff „Faschismus“ zu bezeichnen. Das gäbe eine ungerechtfertigte Gleichsetzung mit weniger barbarischen Systemen wie dem italienischen und also eine Beschönigung des deutschen Regimes.“ [6] Hier setzt der Etikettenschwindel ein, der unter Bezug auf die Einzigartigkeit des Judenmordes die These stützen soll, Hitler, Himmler und Heydrich samt ihrer judenfeindlichen Rassentheoretiker als alleinige Architekten dieses Staatstyps und seiner Politik zu markieren und das imperialistische Wesen und Programm aus dem Zentrum aller Betrachtungen der Kontinuität deutscher Politik vom Kaiserreich bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu rücken.

„Dennoch besitzt die formelhafte Verkürzung des faschistischen Deutschen Reiches auf ein ‚judenmörderisches System‘ alle Aussicht auf Dauer.“[7],[8] Das Bild des Holocaust ist sehr viel einprägsamer; emotional und auch mit entsprechender medialer Darstellung zu stützen, als die Auseinandersetzung mit der Gesamtheit der historischen Abläufe und deren Protagonisten. Nicht zuletzt „lässt sich diese Formel als nationales Schuldbekenntnis vorweisen, als Zeugnis für die ‚bewältigte deutsche Vergangenheit‘.“[9]

Deshalb gilt, was der aus Deutschland vertriebene Soziologe und Philosoph Max Horkheimer schon im Jahr 1939 schrieb: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“[10]

Pätzold weist darauf hin, dass die Verwendung des demagogischen Etiketts „Nationalsozialismus“ durch seine Erfinder und heutigen Verbreiter einhergeht mit dem Schweigen über die Gesellschaft, die Regime und Ideologie hervorbrachte – hier liegt der eigentliche Sinn, sich auch mit dem Sprachgebrauch auseinander zu setzen.

3. Warum wollen wir und/oder ich die Formulierung „deutscher Faschismus“ bzw. „Faschismus allgemein“ bei der Charakterisierung dieser gesellschaftlichen Erscheinung gebrauchen

Für Antifaschisten stellt sich nicht die Frage, ob sie „Antinationalsozialisten“ sind – warum also in unseren Reihen die Begrifflichkeit „Nationalsozialismus“?

Der Begriff des Faschismus ist heute (weitgehend) aus dem deutschen Wortschatz getilgt, so Kurt Pätzold in seiner Einleitung. Viele sprechen nur noch vom Nationalsozialismus und übernehme damit die demagogische Selbstbezeichnung der Nazis. Diese Wortwahl aber verschleiere den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus und diskreditiert unterschwellig den Begriff „Sozialismus“ gleich mit.[11]

„Dabei kann inzwischen fast jeder wissen, dass der ‚Nationalsozialismus‘ weder ‚national‘ – allenfalls chauvinistisch und nationalistisch – noch ‚sozialistisch‘ war: Die Eigentums- und Produktionsverhältnisse blieben bestehen. Diese waren 1945 so kapitalistisch wie 1933. (Um es ganz radikal zu sagen: War es national, was die Faschisten nach ihrem angezettelten Weltbrand hinterließen – auch Deutschland in Schutt und Asche – und sozialistisch? Allein ein demokratischer Ansatz genügte diesen Verbrechern, um jegliche Form des Widerstandes mit allen Mitteln zu verfolgen. Sozialistisch? Allein die leiseste Äußerung dieser Idee führte zu jeder Form von Ausrottung bis ins letzte Glied. Ganz besonders deutlich wird das Antisozialistische im ideologisch und politisch begründeten unbändigen Hass gegenüber dem bereits damals realexistierenden Sozialismusversuch.“(UdSSR, MVR). cm)

Wer allerdings in der Bundesrepublik Faschismus als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet, wird vom Inlandsgeheimdienst, Verfassungsschutz genannt, beobachtet. Laut Bericht des entsprechenden Landesamtes Bayern ist das z. B. beim Historiker Kurt Pätzold der Fall. – Arbeiten wie diese müssen also wegen Extremismusverdachts registriert werden, Vorträge finden vermutlich unter Aufsicht statt.

Um allen falschen Vorstellungen vorzubeugen: der Faschismus war und ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft; er ist aber im Gegensatz zur bisweilen auch unüberlegten oder bewusst falsch interpretierten Auseinandersetzung mit den derzeit herrschenden kapitalistischen Verhältnissen keine zwangsläufige Entwicklung.

Das Thema Faschismus wird über 75 Jahre nach der militärischen Zerschlagung der verheerendsten Ausgeburt dieser politischen Bewegung, besonders der deutschen Spielart, in Behörden, Schulen, an den Universitäten und in den Medien der Bundesrepublik mit grotesker Heuchelei behandelt. Wer den Begriff Faschismus an Stelle von Nationalsozialismus verwendet, macht sich verdächtig, dem bundesdeutschen offiziösen Fundamentalismus von „Rechte und Linke haben die Weimarer Republik zerstört“, „Rot gleich Braun“, „zwei deutsche Diktaturen“, „Totalitarismus“ oder „Extremismus“ nicht anzuhängen. Der unhinterfragte Begriff „Nationalsozialismus“ sei offenkundig aus Deutschland-West erfolgreich importiert worden, so Pätzold, die Verwendung des demagogischen Etiketts „Nationalsozialismus“ durch seine Erfinder und heutigen Verbreiter geht einher mit dem Schweigen über die Gesellschaft, die Regime und Ideologie hervorbrachte.

Pätzold illustriert das in seinem Buch mit einer Episode, die sich 2010 in der Humboldt-Universität zutrug: In einem Seminar wurde Geschichtsstudenten aufgetragen, Texte des Publizisten und Antifaschisten Carl von Ossietzky zu lesen. Als man sich erneut traf, habe sich die Seminarleiterin erkundigt, ob es Fragen oder Kommentare zum Gelesenen gebe. „Darauf fragte eine Teilnehmerin, ob dieser Ossietzky ein Kommunist gewesen sei, und erklärte auf die Gegenfrage, wie sie darauf gekommen sei, er schreibe doch  ,Faschismus‘, also nicht ,Nationalsozialismus‘.“[12]

Wir können feststellen: Auch wenn viele erklären, man wisse doch, was gemeint sei, ist die offenbar gewollte Verwirrung nicht zu übersehen.

Beängstigend ist in diesem Zusammenhang die erneute öffentliche Übernahme nationalistischen und rechtsextremen Gedankengutes durch den realen Konservatismus. Die extreme Rechte bildet eine aus den Realitäten und Widersprüchen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sich entwickelnde, differenzierte, wandlungsfähige und anpassungsbereite, gleichwohl demokratiefeindliche Kraft, die auf alle nur denkbaren Herausforderungen der Zeit Lösungen anzubieten sucht, die letztendlich eine Ungleichwertigkeit der Menschen suggerieren. Diese Ungleichwertigkeit der Menschen, die in dem Wahn des jüdisch-bolschewistischen Untermenschen seine extreme sprachliche Ausprägung fand (heute sind es z.B. die „Umvolkung“, das Spracharsenal der Russophobie oder auch die „Islamisierung“) bedarf einer ebenso klaren Abgrenzung  – inhaltlich wie sprachlich.

Zum Abschluss der Verweis auf den internationalen Charakter dieser Ideologie, der faschistischen, die es in den verschiedensten staatlichen Ausformungen auch zur politischen Machtausübung gebracht hat. Wer sich zum Beispiel mit dem Franquismus, also der spanischen Variante des Faschismus, beschäftigt, wird sehr schnell den zum deutschen Faschismus vergleichbaren terroristischen Ansatz – bei fehlender Judenverfolgung – erkennen können. Auch die ideologischen Folgewirkungen in Spanien sind, ähnlich denen in der Bundesrepublik, unschwer auszumachen. Allerdings ist, und auch das ist eine wesentliche Erkenntnis aus den opferreichen Kämpfen, vor der inflationären Verwendung des Faschismusbegriffs, wie dies, sehr zum eigenen Schaden, die kommunistische Bewegung bis 1934 getan hatte, zu warnen. Für uns hier und heute bleibt es eine wichtige Aufgabe, autoritäre und faschistische Entwicklung zu erkennen, klar zu benennen und gleichzeitig die bürgerlichen Freiheiten nicht nur zu verteidigen, sondern auch auszudehnen. Wenn, wie auf dem Marzahner Friedhof gerufen wird „Sozialdemokraten haben uns verraten“ oder der unangemessene Einsatz der Polizei von Gruppen als faschistisch bezeichnet wird, ist das auch ein Hinweis auf das zumindest ungenügende historische Wissen.

Auch wenn ich hier deutlich für einen klaren Gebrauch der Begriffe eintrete, sollte das kein Grund sein, antifaschistische Partner mit Sprachregelungen zu verprellen. Es sollte aber deutlich werden, dass der deutsche Faschismus mit seiner Selbstbezeichnung als „Nationalsozialismus“ denkbar schlecht charakterisiert werden kann, der Demagogie dieser Ideologie weiter Nahrung geboten und vom notwendig breiten Antifaschismus abgelenkt wird. Pätzold mahnt: „… daß Irrtümer auf den Feldern der Politik, wenn sie wesentliche Themen und Gegenstände betreffen, meist bitter bezahlt werden müssen und dass ohne theoretische Arbeit praktische politische Erfolge nicht zu erzielen sind.“[13]

In diesem Sinn ist der Text nicht nur Auseinandersetzung mit einem fragwürdigen Sprachgebrauch, dessen Zielsetzungen über die oben genannten Sprach- und Ideologiepaare – in der Regel in den Totalitarismusgleichsetzungen – einen Ausdruck finden, es geht um Auseinandersetzung mit jenem gedanklichen, tief verwurzelten und immer wieder erneuerten Ansatz sprachlicher und politischer Wirkungsmächtigkeit – wie anders ließe sich die Auseinandersetzung sonst erklären. Das zähe Festhalten an einer übernommenen falschen, weil eben aus dem faschistischen Ansatz bewusst als desorientierender Begriff marketingartig in die politische Landschaft gesetzt, sollte Antifaschisten nicht nur nachdenklich stimmen, sondern eine sprachliche Gegensetzung liefern lassen.

Das Demagogische und damit auch die nachhaltige Wirkmächtigkeit in der Selbstbezeichnung des deutschen Faschismus als Nationalsozialismus wird allenthalben noch zu gering bewertet – sicher ein Erfolg subtiler kontinuierlicher ideologischer Einflussnahme nach 1989 in Ostdeutschland und der spezifischen Rolle der Zweistaatlichkeit über mehr als 40 Jahre. Es ist auch Ausdruck dessen, inwieweit es gelang oder auch nicht, den antifaschistischen Konsens der DDR als Staat zu einem bestimmenden Faktor in der Bevölkerung der DDR werden zu lassen. Wer die ritualisierten Formen antifaschistischen Gedenkens der späten Jahre vor Augen hat, kann da sicher manche Gründe ausmachen. Es darf aber nicht übersehen werden, wie viele Generationen eine Entlarvung des Demagogischen der Selbstbezeichnung des Faschismus als Nationalsozialismus schon in der Schule vermittelt bekamen; es kann hier gar nicht über die vielen Beispiele aus Kunst und Kultur geschrieben werden. Nationale Gedenkstätten, die an den opferreichen Kampf gegen den Faschismus erinnerten, waren für viele Menschen auch Gegenstand der individuellen Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus.

Aber das Demagogische, vor allem der Bezug auf das Nationale (das, was der Faschismus allein der deutschen Nation zugefügt hat, ist so ungeheuerlich einmalig, dass es sich nie wiederholen darf, zumal es sich hierbei nicht um das Nationale handelte, sondern um das überschäumend Nationalistische – „Deutschland, Deutschland über alles in der Welt“) und den Sozialismus (der Faschismus suggerierte vor allem der deutschen Arbeiterklasse, einen besseren Sozialismus als den, der seinerzeit in der Sowjetunion aufgebaut wurde, nämlich einen deutschen Sozialismus), all das sollte meines Erachtens argumentativ noch überzeugender vertieft werden.

Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass je nach Einordnung und Gewichtung der unterschiedlichen Faktoren, die Faschismus bestimmen sollen, dem Gebrauch in der aktuellen und hier vor allem der politischen Auseinandersetzung oder auch der historischen Bewertung entsprechend, sehr unterschiedliche Standpunkte einfließen. Da im aktuellen Antifaschismus Faschismus auch und gerade in der politischen Auseinandersetzung mit einer klaren Abgrenzung zu sonstigen konservativ-reaktionären Erscheinungen benannt werden sollte, halte ich aus den oben dargelegten Positionen die eindeutige Begrifflichkeit „deutscher Faschismus“ für geeignet. Damit soll, wie auch bei anderen historischen Bewertungen, wie bsw. die „Machtübertragung“ an die deutschen Faschisten, die überwiegend als Machtübernahme in entsprechenden historischen Darstellungen fälschlich und damit vor allem auch bagatellisierend gebraucht wird, klärende Sicht gefördert und der Beliebigkeit begegnet werden.

Der Text nutzt Inhalte von Kurt Pätzold, speziell in der lesenswerten Einleitung der „Faschismus-Diagnosen“ Berlin 2015 (in der Regel in Kennzeichnung), sowie die schon ältere Quelle: Reinhard Kühnl: Faschismustheorien. Ein Leitfaden. Aktualisierte Neuauflage, Heilbronn 1990. Weiteres Material ist einer Reihe von Rezensionen entnommen. Aktuell sei auf den Beitrag von Gerhard Hanloser „Die Linke und die Erinnerungspolitik. Wie viel Globalisierung verträgt die Erinnerung an den Holocaust?“[14] verwiesen.

Ich danke den Lesern, die den Text kritisch, aber zugleich unterstützend begleitet haben.

Keineswegs bestand die Absicht oder Möglichkeit, das vielfältige Material umfassend auszubreiten. Bei Fehlern und Hinweise bitte ich unter cmelis@gmx.de um Nachricht.

Anhang 1

Hier einige Beispiele, wie der deutsche Faschismus und nicht nur er konsequent auch auf das populäre proletarische Element des revolutionären Liedgutes zurückgriff (die weitere Übernahme von Symbolen und Riten liberaler, sozialdemokratischer oder kommunistischer Organisationen sei nur erwähnt). Aus dem revolutionären Arbeiterlied von 1919 „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf / Zum Kampf sind wir bereit / Dem Karl Liebknecht, dem haben wir’s geschworen / Der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand“ wurde um 1930 die Version von Adolf Wagner für die SA: „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf / Zum Kampf fürs Vaterland / Dem Adolf Hitler haben wir’s geschworen / Dem Adolf Hitler reichen wir die Hand.“

Gleichzeitig wurde der originale Liedtext von „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ in den Anfangsjahren des „Dritten Reichs“ in über 50 Liedsammlungen von verschiedenen faschistischen-Organisationen abgedruckt. Was heute völlig absurd klingt, war Teil des taktischen Kalküls der NSDAP: Symbole des politischen Gegners an sich reißen und für die eigenen Zwecke benutzen. Umdichtungen folgten: „Brüder in Zechen und Gruben“ mit Zeilen, wie „Börsengauner und Schieber knechten das Vaterland“ und „Hitler treu ergeben, treu bis in den Tod“. Darin vereinten sie Antisemitismus und Führerkult. In anderen Umdichtungen ersetzte man einfach die „blutrote Fahne“ der kommunistischen Partei durch die „Hakenkreuzfahne“.

Dieser organisierte Einsatz von Liedern durch die Nazis und die mangelnde Aufarbeitung und Bewältigung dieser Missbrauchserfahrung in der Nachkriegszeit scheint eine Ursache dafür zu sein, dass das Gedankengut der Nazis tief verinnerlicht in so manchen Köpfen weiterwirkt und „Nationale Revolution“ auch heute wieder ein brauchbarer Begriff für die extreme Rechte darstellt.

Anhang 2

Es handelt sich um ein Redemanuskript. Obwohl Sorgfalt für gebrauchte Zitierungen erfolgte, werden diese nicht vollständig sein. Auch hier gilt, dass Verbesserungen gewünscht sind.

Anhang 3

Nachfolgend wird auf weitere Texte zum Thema verwiesen, die hinreichend kompakt sind. Natürlich ist die Literatur zum Thema deutlich vielfältiger, es kommt mir aber nicht auf Vollständigkeit an, sondern auf Hinweise, die den Gegenstand des Beitrages stützen und zugleich erweitern oder auch, zumindest in Teilen, eine andere Position beziehen.

Der reichste Schatten in der Hölle[15]

Streit der Begriffe: Faschismus versus »Nationalsozialismus«

Von Matthias Krauß

»Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« So mahnte der Dresdner Sprachforscher Victor Klemperer, 1945 einer der wenigen Juden der Stadt, die den Hitlerfaschismus überlebt hatten. Er hat mit diesen Worten aus seinem bekanntesten Werk »LTI – Lingua Tertii Imperii« (Sprache des dritten Reiches) eindringlich davor gewarnt, die Begriffe oder den Sprachgebrauch der Nazis ungeprüft und vertrauensselig zu übernehmen. Das Werk erschien in der sowjetischen Besatzungszone. Der Westen hielt sich bezeichnenderweise an genau diese Aufforderung nicht. 25 Jahre lang wurde in der BRD um die beiden Begriffe Faschismus und Nationalsozialismus gerungen. Der NS-Begriff hat den Sieg davongetragen. Einstige DDR-Bürger hatten sich nach 1990 dem anzupassen. Selbst bei den Linken gehört »Nationalsozialismus« inzwischen zum festen Sprachgebrauch.

Nationalsozialismus aber – das ist zweifellos Hitler-Goebbels-Slang. Der Erfolg dieser Sprachvorgabe des »Führers« im Westen Deutschlands und inzwischen genauso im Ostteil ist auch deshalb so verheerend, weil der Begriff nachweisbar von den Nazis bewusst und auf Wirkung berechnet in Umlauf gebracht worden war. Und wer ihn heute einsetzt, der gestattet dieser Wirkung Entfaltung, sei er sich dessen bewusst ist oder nicht. Im Klempererschen Sinne: Wer die Sprache der Nazis freiwillig übernimmt, der beginnt damit, ihr Denken zu übernehmen. Und gerade ostdeutsche Bürgerrechtler waren übereifrig im Streben, den Linken- und Kampfbegriff »Faschismus« über Bord zu werfen und die nun offiziell »Nationalsozialisten« genannten braunen Banditen mit ihren Opfern, den Sozialisten, sprachlich zu verlinken.

In anderen Weltgegenden ist man sich dieser Problematik durchaus bewusst. 1986 sollten die afrikanischen Studenten an den Universitäten in Südafrika gezwungen werden, die Lehrsprache Afrikaans, den Dialekt der weißen Rassisten, anzunehmen. Daraufhin brachen Aufstände aus: »Don’t speak the language of the oppressors« (Sprich nicht die Sprache der Unterdrücker), wurde gefordert.

Wenn die Ablehnung des Kampfbegriffs »Faschismus« und die Neigung zum stubenreinen Wort »Nationalsozialismus« überhaupt begründet wird, dann mit dem Vorwand, die deutsche Strömung eines weltweiten Phänomens in ihrer Einmaligkeit sprachlich herauszustreichen. Nun ja: Von »Nationalsozialismus« redeten Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Hermann Göring und natürlich Joseph Goebbels. Von »deutschem Faschismus« sprachen Thomas Mann, Carl von Ossietzky, Albert Einstein und Ernst Thälmann. Vielleicht sollten sich Demokraten und Linke in Deutschland noch einmal überlegen, welcher Gruppe sie sich sprachlich zuordnen.

Eine ähnliche Karriere machte nach der Befreiung auch der »Eiserne Vorhang«. Propagandaminister Joseph Goebbels hatte ihn zuvor als Begriff zwar nicht erfunden (das Wort taucht u. a. bei Stefan Zweig auf und wurde später von Winston Churchill eingesetzt, als er 1948 dem Osten den Kalten Krieg erklärte), aber Goebbels hat ihn in einem Aufsatz für die Zeitung Das Reich vom Februar 1945 gleichsam aus der Taufe gehoben und unsterblich gemacht. Das DDR-Lexikon »Geflügelte Worte« zitierte zu diesem Stichwort den britischen Kommunisten Rajani Palme Dutt: »In den kapitalistischen Ländern kam der Begriff ›Eiserner Vorhang‹ in allgemeinen Gebrauch. An seine Naziherkunft wird dabei natürlich nicht erinnert. Müssten die westlichen Publizisten und Politiker für jede Verwendung dieses Ausdrucks seinem Urheber ein Autorenhonorar zahlen, dann wäre der Schatten des Dr. Goebbels heute gewiss der reichste Schatten in der Hölle«. (Herv.: der Verf.)

Eine andere Position nimmt M. Wildt ein, wenn er als Resümee in seinem Beitrag „Nationalsozialismus oder deutscher Faschismus?“[16] weniger der Frage in der Überschrift seines Artikels nachgeht sondern resümiert: „Er (der deutsche Faschismus) stellte eine soziale wie politische Ordnung dar, die zwar viele Übereinstimmungen mit den faschistischen Bewegungen in Europa und ähnliche Wurzeln aufwies, aber doch daraus herausstach. Es ist daher nicht falsch, von einem deutschen Faschismus zu sprechen, aber der Begriff Nationalsozialismus bleibt präziser.“[17] Seine Argumentation kann hier nicht ausgebreitet werden, aber dass „Die rassistische Logik der systematischen Selektion von Menschen einerseits, denen ein Lebensrecht zugestanden wurde, und Menschen andererseits, die unweigerlich, allein aufgrund einer rassistischen, antisemitischen Definition dem Tod ausgeliefert waren, bildete die Spezifik des Nationalsozialismus.“ geht meines Erachtens an der Breite der Typbildung vorbei und blendet vor allem die sozialökonomische Einbindung weitgehend aus. [18]

Kai Köhler[19] liefert mit einer Rezension zu Gerd Wiegel / Guido Speckmann: „Faschismus“[20] einen Überblick über eine prägnante Einführung zu Begriff und Geschichte des Faschismus

„Faschismus“ ist ein schillernder Begriff. Er bezeichnet erstens politische Strömungen, die zwischen 1920 und 1945 ihre Hochphase hatten, und dient zweitens einer politischen Analyse, die sich auch auf die Gegenwart beziehen lässt. Drittens tritt er als politischer Kampfbegriff auf, wenn aus je unterschiedlichem Interesse eine tränengasfreudige Polizeieinheit oder ein islamistisches Terrorregime abgewertet werden soll; und viertens kommt er allgemein lebensweltlich vor, wenn es etwa einen Hausmeister, der lärmende Kinder tadelt, zu tadeln gilt.

Faschistisch kann also manches sein, und wer mit dem Begriff arbeiten will, tut gut daran, ihn einzugrenzen. Eben dies unternehmen Guido Speckmann und Gerd Wiegel, die eine vorbildlich lesbare und instruktive Einführung in Geschichte und Analyse des Faschismus verfasst haben. Ihr Buch informiert über die gegenwärtige Theoriediskussion zum Thema, über die Entwicklung des Faschismus in Deutschland und Italien und über die Frage, inwieweit von einem gegenwärtigen Faschismus zu sprechen ist. In seiner Knappheit setzt es solide historische Kenntnisse voraus, ist also für eine erste Orientierung wenig geeignet. Wer aber bereits ein Grundlagenwissen hat, bekommt die Chance, es besser zu ordnen.

Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert. Ein ausführlicher Abschnitt zur Theorie bietet gleichzeitig eine kurz gefasste Forschungsgeschichte und eine Begriffsdefinition. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Ansätzen aus dem linken Spektrum – Totalitarismustheorien werden von Speckmann und Wiegel knapp, doch mit überzeugenden Argumenten als unhistorisch widerlegt. Die extreme Linke und die extreme Rechte ähneln sich nur manchmal in ihren Mitteln, doch nie in ihren Zielen; entsprechend gehörten Kommunisten und Sozialdemokraten zu den Opfergruppen, die zuerst betroffen waren, als es aus faschistischer Sicht galt, alle Organisationen von Arbeitern zu zerschlagen.

Gleichwohl folgen Speckmann und Wiegel keinem orthodox marxistischen Ansatz. Die berühmte Dimitroff-Formel vom Faschismus als „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ lässt sich nicht ohne weiteres aufrechterhalten. Dimitroffs Referat brachte 1935 – also lange vor dem Weltkrieg und vor dem Holocaust – durchaus neue Erkenntnisse, doch muss man den Ansatz heute weiterentwickeln. Dabei stellen sich zwei Fragen, denen die Autoren im zweiten, dem historischen Teil nachgehen. Erstens lässt sich zwar nicht leugnen, dass der Faschismus von Industrie und Grundbesitzern gefördert wurde und auch deren Interessen vertrat. Doch klärt dies noch nicht, inwieweit die Politik von der Wirtschaft unabhängig agierte. Speckmann und Wiegel beantworten die Frage für die beiden faschistischen Hauptländer unterschiedlich: Nur in Deutschland, nicht aber in Italien, hatte sich in der Schlussphase das Regime ganz der Kontrolle durch seine Geldgeber entwunden und besaß die Politik die ganze Macht.

Dass hier Deutschland überhaupt genannt ist, verweist auf die zweite Frage. Viele Forscher leugnen, dass hier überhaupt von Faschismus zu sprechen sei. Zu groß seien die Unterschiede zu den Faschismen in anderen Ländern, und insbesondere zum Völkermord an den Juden gäbe es in anderen Ländern keine Parallele.

Speckmann und Wiegel verkennen die Differenzen nicht, gewichten aber die Gemeinsamkeiten mit anderen faschistischen Bewegungen und Regimes höher. Insbesondere verweisen sie darauf, dass auch der italienische Faschismus – beim Angriff auf Abessinien 1935/36 – genozidale Mittel anwendete und dass die italienische Wendung zu einer antisemitischen Politik ab 1936 aus eigenem Antrieb erfolgte, und nicht auf Druck der deutschen Verbündeten.

Ausdrücklich betonen Speckmann und Wiegel, dass der Abessinien-Krieg nicht als verspäteter Kolonialkrieg zu begreifen sei, und weil er „auf die Errichtung eines institutionalisierten rassistischen Systems“ zielte. Eben dies lässt sich freilich auch von zahlreichen früheren Kolonialkriegen sagen. Der Zusammenhang eben wegen seiner genozidalen Praxen von Kolonialismus und Imperialismus einerseits (auch von dem der westlichen Demokratien) und Faschismus andererseits hätte eine genauere Beleuchtung verdient gehabt.

Doch würden sich hier nur Ähnlichkeiten zeigen, keine Gleichheit. Der Kriterienkatalog, den Speckmann und Wiegel vorlegen, ermöglicht eine genauere Bestimmung dessen, was Faschismus ist. Er umfasst erstens ideologische Merkmale wie einen völkischen Nationalismus und eine Wendung gegen Werte der Aufklärung, zweitens eine Bestimmung seiner sozialen Basis, drittens seine Organisationsform als auf einen Führer ausgerichtete Massenpartei (unterstützt vom Aufbau paramilitärischer Gruppen), viertens als soziale Funktion der Schutz der bestehenden Eigentumsordnung, fünftens als politische Praxis die gewaltsame Ausschaltung aller gegnerischen Gruppen im Inneren und eine Expansion nach außen.

Faschismus ist also, wie sich sogar in dieser hier stark verkürzten Aufzählung zeigt, ein außerordentlich voraussetzungsreicher Begriff. Er ist sogar derart voraussetzungsreich, dass bei Speckmann und Wiegel nur zwei faschistische Regimes – nämlich Deutschland und Italien – übrigbleiben. Selbst die Franco-Diktatur in Spanien, sonst eine der Hauptverdächtigen, erscheint so als konservativ-klerikales, katholisches System, da sein Charakter als politische Bewegung kaum ausgeprägt ist.

Dennoch verschwindet die Sache nicht im Bemühen um eine exakte Definition. Vielmehr verwenden die Autoren, im Anschluss an Robert O. Paxton, ein Mehrphasenmodell. So unterscheiden sie zwischen der Entstehung einer Bewegung, ihrer Verwurzelung im politischen System, dem mehr oder minder erfolgreichen Griff nach der Macht und schließlich die Alternative von Radikalisierung oder Niedergang. Auf diese Weise können sie auch die nur teilweise erfolgreichen faschistischen Bewegungen in West- und besonders Osteuropa in die historische Betrachtung einbeziehen.

Ein abschließender Teil fragt danach, welche faschistischen Bedrohungen es heute gibt. Es überrascht nicht, dass Wiegel und Speckmann hier sehr vorsichtig argumentieren und etwa die Rede vom „Islamfaschismus“ zurückweisen. Schließlich überschreitet der Bezug auf Religion den für den Faschismus grundlegenden Bezug auf Volk, Nation und Rasse – ohne dass man deswegen für Islamisten Sympathie entwickeln müsste.

Problematischer ist Wiegels und Speckmanns Unterscheidung zwischen neofaschistischen und rechtspopulistischen Gruppierungen. Dabei ist richtig, dass im Politikstil und teils auch in inhaltlicher Ausrichtung Differenzen zu finden sind, wenn man beispielsweise die offen militant auftretende NPD mit ihren Verbindungen in das Feld der gewaltfixierten Nazi-Kameradschaften einerseits, die eher auf Seriosität bedachten Republikanern andererseits vergleicht. Doch ist die Abgrenzung schwankend. Die österreichische FPÖ, im Buch dem Rechtspopulismus zugeordnet, setzt immer wieder gezielt Signale, die als positiver Bezug auf die NS-Vergangenheit verstanden werden können und damit als Drohung für die Zukunft. Die ungarische Jobbik-Partei kommt denn auch bei Speckmann und Wiegel zwar im Abschnitt zum Rechtspopulismus vor, doch benennen die Autoren zu Recht auch ihre Ausrichtung an Elementen des traditionellen Faschismus.

Es gibt hier also ein Übergangsfeld, und bezogen auf die zukünftige Entwicklung heißt das: Parteien, die heute rechtspopulistisch sind, haben das Potential, sich zu faschistischen Parteien zu entwickeln. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis der Autoren auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Reaktion der Rechten darauf. So haben sich im Gefolge der Wirtschaftskrise seit 2008 rechtspopulistische Parteien von ihrem zuvor propagierten neoliberalen Wirtschaftsmodell entfernt und tendieren nun zu einem Sozialstaat, der nach ethnischer Herkunft diskriminiert. Die soziale Frage wird nicht mehr geleugnet, sondern sie wird rassistisch beantwortet.

Überzeugend begründen die Autoren, dass hier nicht von wirklicher Systemopposition die Rede sein kann, sondern es sich um eine Rechtsverschiebung im Rahmen des Bestehenden handelt. Dies führt auf eine Frage, die den Rahmen des Buches gesprengt hätte: wie der Faschismus zu bekämpfen ist. Wahrscheinlich ist ein direkter Antifaschismus hilfreich, doch nicht entscheidend. Wichtiger ist es wohl, welcher politischen Richtung es gelingt, die soziale Frage überzeugend zu beantworten. (Herv.: der Verfasser)

Gerd Wiegel / Guido Speckmann: Faschismus. PapyRossa Verlag, Köln 2012. 122 Seiten, 9,90 EUR.ISBN-13: 9783894384739


[1] Schölzel, Arnold: Wider offiziöse Demagogie; jw,  23.11.2015, S. 15 / Politisches Buch https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/275779.wider-offiziöe-demagogie.html?sstr=pätzold/faschismusdiagnosen

[2] Kurt Pätzold. Faschismus-Diagnosen. Berlin: Verlag am Park 2015, Einleitung S. 13

[3] Pätzold loc.cit.S.25

[4] Pätzold loc.cit. S. 11 – 34

[5] ohne den Sieg der Antihitlerkoalition. CM

[6] Pätzold loc.cit. S. 31f.

[7] Pätzold loc.cit. S. 33

[8] Dadurch kann auch nahtlos an die „Urangst“ vor den Roten („räuberische und mörderische Bauern“ (Luther), Jacobiner, Anarchisten, Kommunisten) und den „wilden Horden aus dem Osten“ angeknüpft werden.

[9] Pätzold loc.cit. S. 33

[10] Max Horkheimer. Die Juden und Europa. Zeitschr. f. Sozialforsch. Bd. 8/1939 S. 115; https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Zeitschrift_fuer_Sozialforschung_8_1939-40.pdf

[11] „Der Begriff ‚Faschismus‘ ist in den Jahrzehnten nach dem bewaffnet erzwungenen Ende des Regimes offenkundig aus Deutschland, genauer aus Deutschland-West, erfolgreich deportiert worden. Die Erscheinung heißt wieder so, wie ihre Akteure sie einst tauften: Nationalsozialismus. Das zu demagogischen Zwecken benutzte Etikett klebt wieder fest, wenn der ursprüngliche und der heutige Zweck seines Gebrauchs auch nicht identisch sind.“ Pätzold loc.cit S. 13

[12] Schölzel  s. Anm 1; Pätzold loc.cit. S. 13

[13] Pätzold loc.cit. S. 10

[14] http://epaper.neues-deutschland.de/eweb/media/nd/2021/11/13/pdf/13_11_2021_a_13_bf596c852e.pdf.

[15] https://www.jungewelt.de/2015/05-13/005.php

[16] Wildt, Michael; Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 65 (2017) H.2, S.103 -115

[17] Wildt. loc.cit. S. 115

[18] ebenda.

[19] https://literaturkritik.de/id/17072#biblio

[20] Gerd Wiegel / Guido Speckmann. Faschismus. Köln:2012 PapyRossa Verlag